[de] Votum Kohärenz
Wörterbuch-Werkstatt Kohärenz - XII. Internationale Tagung des Instituts für kritische Theorie (InkriT) - 22.-25. Mai 2008 Esslingen
Vorbemerkung
Den Text schrieb ich, bevor ich das Stichwort gelesen habe. Dies las ich erst, nachdem ich einige Teile des Votums gelesen habe.
Ich muss sagen, dass das Stichwort selbst sehr schwierig zu erklären ist, im Gegensatz zu anderen Begriffen im Wörterbuch. Es ist kein häufig begangener philosophischer Weg. Das von P. Thomas bevorzugte Schreiben ist die tiefe philosophische Entwicklung in der Bedeutung Kohärenz für Gramsci.
Einige kleine und mehr historische Überlegungen folgen im Text.
Votum Kohärenz
Als historischen Ausschnitt möchte ich betonen, wie sehr im Leben und in den Werken der Marxisten Kohärenz wichtig war und oft grosse und mutige Opfer gekostet hat. Hier das Beispiel des Lebens von Antonio Gramsci: Seine Kohärenz hatte ihn verpflichtet, kein Gesuch auf Begnadigung bei den Behörden einzureichen, und auch seine Familie hat darauf verzichtet.
Dieses Vorgehen war die letzte Konsequenz einer Person wie Gramsci, welche ihr ganzes Leben die Kohärenz lebte, da diese für jede Wahl und Entscheidung die Richtlinie war, aber vorher noch eine metodologische Waffe [1] .
Schon während seiner Zeit an der Universität in Turin schrieb Gramsci viel über die politischen Zustände in der Region und in ganz Italien. Zuerst vor dem ersten Weltkrieg, in welcher die grössten nationalistischen Trompeten begannen laut zu spielen.
Dann während des Krieges schreibt Gramsci über die lächerlichen lokalen Attacken gegen Deutschland. So solle man nicht mehr Wagner spielen [2] , kein Aspirin einnehmen, oder den Sozial- und Politikwissenschaftler Robert Michels aus Italien verbannen [3] . Gramscis Feder stellt auch öffentliche Persönlichkeiten bloss, wie zum Beispiel Luigi Einaudi, einen grossen liberalen Ökonomen und späteren Staatspresident Italiens. In der italienischen Zeitung «Corriere della Sera» schreibt Einaudi für den Protektionismus, welcher die Italiener auffordert, nur italienische Ware zu kaufen, auch wenn diese teurer und von niedrigerer Qualität ist. Damit sollen die Gewinne der italienischen Industrie [4] gefördert werden.
In der Zeitschrift «La Riforma sociale» [5] schreibt Einaudi hingegen, dass man nicht gleich alles, was deutscher Herkunft sei, in Müll werfen kann, und, paraphrasiert, ignorant werden, Dummheiten schreiben, Wahrheiten wieder erfinden, nur weil das gegenwärtige Deutschland für den Krieg verantwortlich ist. In einem Artikel für die sozialistische Zeitung «Il Grido del Popolo» deckt Gramsci diese Widersprüche auf: er bemerk wie derselbe Einaudi wird nie sowas in einem Zeitungsartikel für «Corriere della Sera» schreiben, sehr viele Leute konnten davon lesen, und der Schaden für die italienische Industrie wurde recht gross. Hiermit fängt Gramsci an, die politischen Spaltungen einiger Wirtschaftswissenschaftler wie Einaudi [6] aufzuzeigen.
Die metodologische Frage über Kohärenz ist in fast jedem Artikel des jungen Gramsci von Bedeutung. Sein Erfolgsrezept ist die logische Strategie, sich in die Lage der anderen Personen zu versetzen und somit deren Argumentationen folgen zu können.
In dieser Richtung lesen wir auch viel über Kritik an den Katholiken oder an sozialistischen Kritikern des Katholizismus (wie Podrecca und die Zeitung «L’Asino»). Gramsci schreibt über Cottolengo [7] , einen religiöser Mann (und es war nicht wichtig ob buddhistisch oder katholisch), der in Turin eine grosse Klinik für arme Menschen gegründet hatte. Gramsci erkennt den Wert der Taten dieses Mannes und attackiert die katholische Kirche. Diese hatte Cottolengo zuerst bekämpft, nun aber benutzt sie die Taten von Cottolengo, um sich mit deren Ruhm zu schmücken.
Weitere Beispiele sind die Berichte über Pazifisten wie der Friedensnobelpreis Gewinner E. T. Moneta gegen ein «Gesund» Pazifismus wie der von Norman Angell.
Im Artikel Margini in der bekannte Publikation «La Città futura», schreibt Gramsci zweimal über Intellektuelle und Politiker, welche Meinung und Seite oft ändern. Er nennt sie «crisaioli» [8] , und übt heftige Kritik über jene, die immer suchen neue Ideen und ein ruhende Pol für ihre kleine Seelen.
Noch während des erstes Weltkrieges benützt Gramsci oft das Wort „Intransigenz“ welches für ihn soviel bedeutet wie «klare definierte Prinzipe haben, mit denen all unsere Handlungen, Kleine und Grosse, abstimmt werden». in eine organische Sicht Gramsci sieht das Leben der Menschen in der Partei wie eine Besprechung, in welcher jeder seine Ansichten kundtun kann und man die unterschiedlichsten Ideen mit Toleranz entgegen nimmt. Auf diesem Weg kann die Gemeinschaft einem Ziel folgen [9] .
Gramsci fordert von sich, von seinen Genossen und seinen Gegnern Kohärenz und intellektuelle Rechtschaffenheit. Dies sind die vielleicht zwei grössten Merkmale seiner Persönlichkeit und seinen politischen Entscheidungen.
***
Ergänzung (linguistische Wurzeln)
Das Konzept Kohärenz sollte für Gramsci vielleicht mit seine ganze breite Analyse deren Wurzeln befinden sich in der sprachwissenschaftliche Studien verbinden: eine Hauptrolle hat in dieser ersten Phase sein Bildungsgang mit Matteo Bartoli in Turin. Dieser leistet einen entscheidenden Beitrag zu Gramscis Gedankengut, insbesondere im politischen, philosophischen und pädagogischen Bereich.
Das Mittel «Übersetzbarkeit», welches sich oft in Gramscis Schriften auszeichnet, ist für die architektonische Struktur hinter dem Begriff Kohärenz relevant.
Gemäss Derek Boothman und Carlo Marzani, ist für Gramsci der Begriff »übersetzen« beinahe ein Synonym für den Begriff »bearbeiten, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen Idiome finden« [10] . Idiom bedeutet hier eine kulturelle Gesamtheit, eine Art denken und handeln, die sich in einem bestimmten Land und einer bestimmten Zeit entwickelt. In dieser Bedeutung unterscheidet sich der Begriff »Übersetzen« eminent von der Tätigkeit des Berufsübersetzers. Gramsci verwendet das Wort bildlich und in einem weiteren Sinne.
Die Sprache ist »kein Mittel mit welchem man sich willkürlich bedienen kann, sondern ist die konkrete, tatsächliche Form, welche der Gedanke annimmt. Oder noch besser, es ist der Gedanke selbst in seiner historischen und spezifischen Struktur. Jedermanns Sprache zeigt dessen Weltanschauung auf und die eigentliche Sprache, also die Grammatik existiert nur in der Vielfältigkeit der Sprache tatsächlich gesprochen (eine Vielfältigkeit die sich immer noch entwickelt), so jede Nationalgesellschaft besteht aus so viele Weltanschauungen wie ‚folgende Zusammenstellungen’ nach ‚verchiedene Formeln’ [11] im Lauf der Geschichte (und für die Kontakte zwischen verschiedene Nationen oder Sprachen)« [12] gesammelt.
Aus den Gefängnishefte erfahren wir drei grundlegende Arten der »Übersetzung«: Die erste ist die förmliche orthodoxe, sie passt sich der natürlichen Sprache an. Die Zweite «endolinguistica» oder intraliguistische ist eine Umformulierung in eine natürliche Sprache der Übersetzung zwischen verschiedene Paradigmen. Die Dritte, über ein erweitertes Studienobjekt, ist die »Übersetzung« einer Nationalkultur auf die Kultur einer anderen Nation.
Die Kennzeichen der letzten zwei, d.h. die »Übersetzbarkeit« im engeren Sinne und die im allgemeinen Sinne sind wichtige Themen in den Gefängnisheften. Die paradigmatische Übersetzbarkeit (oder die Übersetzung im engeren Sinn) betrachtet die Übersetzung von wissenschaftlichen oder philosophischen Sprachen, welche »grundlegend dieselben Voraussetzungen haben. Sie können miteinander verglichen und danach gegenseitig übersetzt werden« [13] . In einem Paragraphen, der an Giovanni Vailati [14] gewidmet ist, lässt Gramsci sich von einem offenen Brief von Luigi Einaudi [15] anregen; Dort lobt Einaudi die Gewandtheit Vailatis für die Übersetzungen der ökonomischen, philosophischen und mathematischen Theorien aus der Formalsprache (d.h. die Fachsprache des wissenschaftlichen Gebietes) in eine andere.
Die zweite Art »Übersetzung« vollzieht sich zwischen verschiedenen Nationalkulturen, welche dem Anschein nach völlig unterschiedlich sind, aber grundsätzlich drücken sie dieselben Begriffe aus. Ein gutes Beispiel dafür in der marxistische Politikwissenschaft ist die »Übersetzbarkeit« zwischen nationalen Kulturen, so wie es von Marx selbst empfohlen wurde: Die franzosische Politik, die deutsche Philosophie und die englische Ökonomie [16] .
Die theoretischen Eigenheiten beider Arten der »Übersetzung« haben Gramsci viele Überlegungen und Arbeit gekostet. All dies ist dann in einer bemerkenswerten Einzelaufstellung zusammengeflossen: In diesen Falle handelt es sich um keine wörtliche oder symmetrische Übersetzung, sondern, damit sie gültig ist, zwischen beiden Sprachen zu umgearbeitet, soll es genaue und gemeinsame Strukturvoraussetzungen geben.
Was die Nationalkulturübersetzung betrifft, das strukturelle Niveau hat verständlicherweise eine Entscheidungsrolle und eine spezifische Zeit und Epoche gekennzeichnet. Auf diese Weise ist, wie hat Bronislaw Malinowski [17] später in seinen antropologischen Studien beweist, die »Übersetzung« zwischen Sprachen verschiedener Zivilisationen »selbstverständlich nicht in jedem Detail perfekt [...] aber im wesentlichen schon« [18] . Für die paradigmatische »Übersetzung« sind homologe Ausdrücke der Umstellung nötig, d. h. »Ausdrücke die ihre Wurzeln fundamental in ähnliche Gliederung senken« [19] . Es ist nahezu unmöglich, eine symmetrische »Übersetzung« zwischen wissenschaftlichen Sprachen, die in verschiedener Art gedeutete Wirklichkeiten beschreiben, z. B. eine »Übersetzung« zwischen den Paradigme des ptolemäisches Weltsystems und des kopernikanischen Weltbildes.
Wir können tatsächlich in dieser gramscianischen Betrachtung über die Übersetzbarkeit das Begriff Kohärenz in seiner grundlegenden systemischen Wert treffen. Weit weg von einer beschränkten wörtlichen »Übersetzung«, die systematische Eigenarten und folglich die Metodologie der Analysen Gramsci können in all seinen Studienbereichen angewendet werden.
[1] Togliatti hatte schon in 1956 öffentlich die Methode analisiert und für die Partei zum Beispiel empfohlen: Palmiro Togliatti, L'esempio di Gramsci nel dibattito con le ideologie avversarie, in Per un Congresso di rinnovamento e rafforzamento del Partito comunista. Discorso di chiusura alla sessione del C.C. del P.C.I. del 27-29 settembre 1956 e rapporto ai quadri della Federazione comunista livornese, 15 settembre 1956, Roma, Stabilimento tipografico SETI, pp.45-48.
[2] Vgl. Omaggio a Toscanini, «Avanti!», 7 maggio 1916 – Toscanini dirigierte Wagners Werke in Turin, aber damals war Deutschland mit Italien alliiert «I servi di ieri non possono soffrire i loro ex padroni di cui domani lustreranno di nuovo le scarpe». Über Gramsci und den ersten Weltkrieg: Giovanna Savant, Antonio Gramsci e la Grande guerra (1914-1920), dottorato di ricerca in Studi politici europei ed euro-americani, Università degli Studi di Torino, ciclo XXI.
[3] Vgl. Il capintesta, «Avanti!», XX, 20, 20 gennaio 1916.
[4] Prodotti Nazionali, «Avanti!», 9 aprile 1916 – Das Problem Kohärenz ist für Gramsci hier rein ökonomisch. Wenn die italienische Industrie hat mit nidrigere Qualität Waren ihre Gewinn, wie kann man denken dass die Qualität verbessern kann, ohne ein Monopol, das aus dem Krieg entstand? Vgl. auch La paura del Dumping, «Il Grido del Popolo», 13 maggio 1916,
[5] Vgl. Luigi Einaudi, Germanofili e anglofili, in «La Riforma sociale», XXIII, 4, aprile 1916, pp. 300-4.
[6] Vgl. Domande Indiscrete, «Il Grido del Popolo», 616, 13 maggio 1916. Die Spaltung Einaudis war schon im 1911 mit dem libische Krieg aus dem Redaktion der sozialistische Zeitung «Avanti!» betont, vgl. M. Degl’Innocenti, Il socialismo italiano e la guerra di Libia, Editori Riuniti, Roma, 1976, pp. 195-199. Vgl. Auch L’educazione nazionale, «Avanti!», XXII, 109, 20 aprile 1918, dieselbe eigenartige Spaltung wie Einaudi zeigt auch Giuseppe Prato; noch in I liberali italiani, «Avanti!», XXII, n. 253, 12 settembre 1918, Gramsci analisiert diese Spaltung in der liberalen in allgemein.
[7] Vgl. Il Cottolengo e i clericali, «Avanti!», XXI, 119, 30 aprile 1917 und mit demselben Titel Il Cottolengo e i clericali, «Avanti!», XXI, 123, 5 maggio 1917.
[8] Das Wort «crisaiolo» ist ein journalistischer Ausdruck für Opportunist.
[9] Vgl. Intransigenza-tolleranza, intolleranza-transigenza, «Il Grido del Popolo», n. 698, 8 dicembre 1917; in CF, pp. 478-480. Parz. cens. ACS Carte ufficio revisione stampa, mazzi 21 e 22.
[10] Vgl. Derek Boothman, Traducibilità e processi traduttivi. Un caso: A. Gramsci linguista, Guerra edizioni, Perugia, 2004, s. 55, mit Bezug auf A. Gramsci, The Open Marxism of Antonio Gramsci, herausgegeben von Carl Marzani, Cameron Associates, New York, 1957
[11] Q 1, § 43; p. 34
[12] Meine Übersetzung aus der italienisch, Vgl. Fabio Frosini, Gramsci e la filosofia. Saggio sui Quaderni del carcere, Roma, Carocci, 2003, pp. 99-100
[13] Vgl. Derek Boothman, Traducibilità e processi traduttivi..., p. 59, Boothman benutzt den Ausdruck »Paradigma« nach Kuhns Lesart.
[14] Giovanni Vailati e la traducibilità dei linguaggi scientifici, Q 11, § 48
[15] Luigi Einaudi, Se esista, storicamente, la pretesa ripugnanza degli economisti verso il concetto dello Stato produttore, lettera aperta a R. Benini, in «Nuovi Studi di diritto, economia e politica», settembre-ottobre 1930 (vol. III, fasc. V), pp. 302-314
[16] Vgl. Derek Boothman, Traducibilità e processi traduttivi..., p. 61
[17] Vgl. Ders., p. 74.
[18] Vgl. Q 11, § 48 Per lo storico, in realtà, queste civiltà sono traducibili reciprocamente, riducibili l'una all'altra. Questa traducibilità non è «perfetta» certamente, in tutti i particolari, anche importanti (ma quale lingua è esattamente traducibile in un'altra? quale singola parola è traducibile esattamente in un'altra lingua?), ma lo è nel «fondo» essenziale
[19] Boothman benutzt die Ausdruck «omologia» nach einer Begriffsbestimmung von Ferruccio Rossi-Landi, vgl. ders., Traducibilità e processi traduttivi..., p. 77